Als im Frühjahr 2012 in einem Kleiabbaufeld bei Jarßum Tonröhren gemeldet wurden, sorgte dies im Archäologischen Dienst der Ostfriesischen Landschaft in Aurich noch für keine große Aufregung. Ein Grabungstechniker wurde zur Sichtung ins Gelände geschickt und meldete wie erwartet neuzeitliche Drainageröhren. Was dann aber für helle Aufregung sorgte, war sein Bericht von hunderte Meter langen Bohlen- und Pfostenreihen aus sehr gut erhaltenem Nadelholz. Der Stackdeich von Jarßum war entdeckt.
Die Ausgrabungen waren nur möglich durch die Unterstützung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur sowie zahlreicher weiterer Förderer, Unterstützer und Helfer vor Ort auf den Ausgrabungen. Die detaillierten Ergebnisse waren nur möglich, indem viele Wissenschaften und damit Wissenschaftler zusammengearbeitet haben, so z. B. bodenkundliche Analysen zu Korngrößen und Kalkgehalt, um das Sturmflutgeschehen, Überspülungen und Dauer von landwirtschaftlicher Nutzung zu klären – botanische Analysen zur Bestimmung der Holzarten – dendrochronologische Analysen zu Bestimmung des Alters und der Herkunft der Hölzer – historisch-archivalische Recherchen zur Sichtung von Karten- und Schriftquellen – archäologische Arbeiten zur Dokumentation der Befunde und Analyse von Boden- und Holzstrukturen sowie des Fundmaterials. Insbesondere ist hier die Zusammenarbeit von Niedersächsischem Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven (NIhK) und Ostfriesischer Landschaft zu nennen.
Das Wurtendorf Jarßum befindet sich ca. 5 km südöstlich von Emden nahe dem Übergang der Ems in den Dollart auf der nördlichen Emsseite. Die Strukturen des Stackdeiches waren erst durch ca. 1 m tiefe flächige Bodenabbaumaßnahmen für Deicherhöhungen in Emden ca. 300 m südlich von Jarßum sichtbar geworden. Das durch den Kleiabbau betroffene Areal befindet sich zwischen dem aktuellen Seedeich, welcher in West–Ost-Richtung verläuft, und dem ca. 200 m weiter nördlich gelegenen Deich aus der Zeit nach 1717. Im Jahr 1717 traf die Weihnachtsflut die gesamte südliche Nordseeküste sehr schwer, und viele Deichlinien, wie auch diese, mussten zurückgenommen werden. Des Weiteren schneidet eine dritte Deichlinie, die jedoch nur noch in kurzen Abschnitten erhalten ist, diesen Bereich diagonal von Südost nach Nordwest. Aufgrund der Stratigraphie muss sie jünger als der Stackdeich sein. Dieser drittälteste Deich „vor 1717“ war bei Beginn der Untersuchungen noch ca. 1,7 m hoch über dem Umland zu erkennen (Abb. 1, 2).
Bei dem gefundenen Stackdeich handelt es sich um eine ganz besondere Form innerhalb der Entwicklungslinie der Deiche. Die meisten Deiche sind aus Klei und Sand errichtet, in der Neuzeit jedoch kommen auch andere Formen hinzu. Wohl im 11. Jahrhundert begann man mit dem Bau von nur ca. 1 m hohen „Ringdeichen“ aus Klei, die von jeweils einer Bauernschaft um die Kernfluren der jeweiligen Wurtendörfer ringförmig angelegt wurden. Die geringe Höhe der Deiche sorgte für den Schutz der Ackerflächen im Sommer, ermöglichte im Winter jedoch das Überspülen und damit weiterhin eine Düngung. Der Deichbau weitete sich weiter aus, bis seit dem 13. Jahrhundert ein geschlossener küstenparalleler Seedeich, der „Goldene Ring“ entlang der niedersächsischen Nordseeküste bestand. Die Höhe der Deiche lag im 11./12.Jahrhundert bei ca. 1,6 m, im 13./14. Jahrhundert bei ca. 2,0 m und im 16./17. Jh. bei 4,0 m. In den Jahrhunderten veränderten sich nicht nur die Höhe der Deiche, sondern auch ihr Profil und ihr Aufbau. Generell wurden und werden Deiche höher und breiter, und die Seeseite weist einen zunehmend flacheren Anstieg auf.
Erst seit der frühen Neuzeit, also seit dem 16. Jahrhundert, gibt es genauere Aufzeichnungen über den Verlauf der Deiche an der niedersächsischen Küste. Seit dem 17./18. Jahrhundert wurden auch die betreffenden Deichhöhen und -profile zumeist dokumentiert und sind dann häufig überliefert. An der deutschen Nordseeküste gibt es abschnittsweise Deiche auch ohne einen Außengroden, also ohne Vorland. Sie werden „Schaardeiche“ genannt und sind dem Angriff von Fluten und Sturmfluten verstärkt ausgesetzt. Daher wurden in der frühen Neuzeit solche Deichabschnitte in ihrem seewärtigen Fußbereich mit Ein- bzw. Vorbauten aus Holz, dem „Stackwerk“, befestigt und in dieser Konstruktion „Stackdeich“ genannt. In Archivalien, so z. B. in historischen Karten, wird das Stackwerk zumeist als „Holtzung“ bezeichnet. Dieser Deichtyp ist an der deutschen Nordseeküste vor allem aus dem heutigen Schleswig-Holstein bekannt, wo er offensichtlich im 16. Jahrhundert eingeführt wurde und während des 17. Jahrhunderts weit verbreitet war. Dagegen wurde aus dem niedersächsischen Küstengebiet außer dem jetzt neu entdeckten Stackdeich von Jarßum bisher nur ein vergleichbares Bauwerk bekannt, nämlich der im 17. Jahrhundert im heutigen Wilhelmshaven errichtete Stackdeich „Edo Lammers Holtzung“. In den Niederlanden wurden Stackdeiche bereits seit dem späten Mittelalter errichtet. Da der Holzbedarf für den Bau von Stackdeichen sehr groß ist, an der südlichen Nordseeküste Holz jedoch knapp war, wurde aus Skandinavien Nadelholz in großen Mengen importiert. Seit dem 19. Jahrhundert kam der Typ des Stackdeichs nicht mehr zum Einsatz. Als Alternative führte man sogenannte „Deckwerke“ ein; hierbei wurde der seewärtige Deichfuß mit Steinen gepflastert.
Im Bereich der 2012 und 2013 durchgeführten Ausgrabung lässt sich der Stackdeich auf einer Länge von gut 360 m verfolgen, durch historische Karten und Airborne Laserscans ist aber nachzuweisen, dass er sich auf mindestens einer Länge von über 15 km zwischen Borssum und Rorichum erstreckte. Durch Kleiabbau und Erosion sowie Verwitterung waren die obersten 1,5 m der hölzernen Konstruktion nicht mehr erhalten, sie lassen sich aber rekonstruieren (Abb. 3). Der Aufbau des Stackdeiches lässt sich wie folgt beschreiben: Zunächst wurde eine doppelte Bohlenwand auf der seewärtigen Seite des Deiches aus zwei senkrecht eingerammten Hölzern erstellt, dabei zeigen die beiden parallelen Bohlenwände einen Abstand von 20–40 cm zueinander. Beide senkrechten Bohlenwände sind aus stumpf und auf Stoß aneinandergefügten Bohlen konstruiert, die sich somit nicht überlappen. Die einzelnen Hölzer sind zwischen 5 und 10 cm stark und zwischen 30 und 60 cm breit. Die maximal erhaltene Länge der Bohlen betrug 3,3 m. Die doppelte Bohlenwand wird sowohl land- als auch see-/emswärts von im Winkel von ca. 65° schräg zu den Bohlen eingerammten Holzpfosten von 20–30 cm Durchmesser gestützt. Diese zeigen untereinander, außer bei Reparaturstellen, einen Abstand von 1,5 m. Die landseitigen Hölzer stehen damit im Deichkörper aus Klei, die seeseitigen Pfosten sind in den Untergrund eingerammt, stehen aber mit dem oberen Teil frei im Wasser und werden davon umspült. Eine Verbindung zwischen den schrägen Pfosten und den Bohlenwänden ist archäologisch nicht mehr nachzuweisen gewesen, da in der betreffenden Höhe durch Kleiabbau und zuvor Verrottung in den durchlüfteten bereichen des Bodens kein Holz erhalten geblieben ist. Aufgrund von historischen Planungszeichnungen ist eine derartige Verbindung jedoch belegt. Wenn man die schrägen Pfosten zeichnerisch rekonstruiert bzw. verlängert, muss die ursprüngliche Länge der Bohlen mit gut 5 m angegeben werden. Weiterhin treten in einem Abstand von ca. 5 m von der Bohlenwand landseitig senkrecht eingebaute Pfosten von 50–60 cm Durchmesser auf. Diese Stämme waren mit der übrigen Konstruktion als Stackanker verbunden. Auf der Landseite dieser Holzkonstruktion befand sich der Kleikörper des Deiches.
Die Grabungsflächen zeigen aber keinesfalls eine einheitliche Idealform, sondern Schadenereignisse und Versuche des Eingriffs in die Natur über den Schutz hinaus. In der östlichen Grabungsfläche befand sich nur eine einzelne nicht reparierte Deichlinie, aber aus dieser ragten in einem Winkel von 60° einzelne gerade Holzkonstruktionen in dien Ems hinein. Es handelt sich dabei um Strömungsbauwerke, die die Fließeigenschaften des Flusses regulieren sollten. Diese Bauwerke sind auch auf historischen Karten verzeichnet.
Aus den Hölzern des Stackdeiches wurden acht dendrochronologische Proben entnommen. Diese zeigen, dass die Bäume für das Stackwerk in der Zeit vom 16. bis zum 17. Jahrhundert im südöstlichen Norwegen gefällt wurden. Die Datierung in das 16./17. Jahrhundert fällt in die Zeit großer wirtschaftlicher Prosperität der Stadt Emden, was erklärt, warum mit großem Aufwand Holz in Norwegen eingekauft, transportiert und in Handarbeit eingebaut werden konnte. Bei 468 Hölzern wurde die Holzart analysiert. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um norwegische Kiefer (Pinus, 406 Proben), daneben tritt regelmäßig Fichte (Picea, 7) und Eiche (Quercus, 4) auf, selten wurde Esche (Fraxinus) und Erle (Alnus) verwendet.
Die Stackdeichlinie wird durch Archivalien aus dem Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Aurich weiter beschrieben. In der Akte „Die schiefe Einrammung der Deichholzung in der Ober- und Niederemsischen Deichacht“ aus dem Jahr 1737 (Rep. 4 B II p Nr. 19) befindet sich eine Konstruktionszeichnung, die nahezu die oben beschrieben Holzkonstruktion wiedergibt und auch den Deichkörper aus Klei zeigt, der in der Ausgrabung aufgrund des vorherigen Bodenabbaus nur noch zum Teil erhalten war. Drei Karten aus den Jahren 1720, 1750 und 1778 geben den Verlauf der dann bereits aufgegebenen „Holtzung“ wieder. 1750 wird sie mit „Hier hat vor diesen der Teich gelegen“ und „Alte Holtzung von dem vormals hier gelegenen Teich“ bezeichnet, 1750 mit „Alte Deich Linie wo vor Holtz Deich diesen Deich gelegen hat“. Das wie die Stecknadel im Heuhaufen gesuchte und gefundene Rechnungsbuch der Oberemsischen Deichacht von 1644 ist die bisher älteste gefundene Schriftquelle zu den Kosten für Reparaturen am Stackwerk und für den Kauf von Holz aus Norwegen. So wird die über die dendrochronologischen Analysen festgestellte Herkunft der Hölzer bestätigt. Weiter wird über die Kosten für Baumaterial, die Namen der Schiffer und Aufträge an Handwerker berichtet.
Unter dem Stackdeich wurde überraschenderweise noch ein kleiner, von Überschwemmungsbändern überprägter Kleideich von deutlich unter einem Meter erhaltener Höhe gefunden. Dabei handelt es sich um einen kleinen Teil eines Ringdeichs, damit den ältesten Deich in diesem Areal. Insgesamt zeigt das Ausgrabungsgebiet damit fünf Deiche vom 11. bis zum 21. Jahrhundert: Deich 1: mittelalterlicher Ringdeich. Deich 2: Stackdeich mit sechs unterschiedlichen Bauphasen des 16./17. Jahrhunderts. Deich 3: Kleideich vor der Weihnachtsflut und damit Deich vor 1717. Deich 4: Kleideich nach 1717. Deich 5: Aktueller Seedeich.
… und darum fährt bei jeder Meldung von Funden ein Grabungstechniker nachschauen, denn wer weiß, wann anstelle der Drainagerohre einmal wieder ein Stackdeich gefunden wird …
(Text: Sonja König)
Literatur:
Johannes Ey, Früher Deich- und Sielbau im niedersächsischen Küstengebiet. In: M. Fansa u. a. (Hrsg.), Kulturlandschaft Marsch: Natur – Geschichte – Gegenwart. Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch Heft 33 (Oldenburg 2005) 127–132.
Sonja König, Johannes Ey, Annette Siegmüller und Steffen Wolters, Der Stackdeich von Jarßum, Stadt Emden. Siedlungs- und Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 38, 2015, 313–351.
Sonja König, Der Stackdeich bei Jarßum, Stadt Emden. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 32. Befestigung und Grenze in Mittelalter und Neuzeit. (Paderborn 2019) 215–230.