2510/3:120 - Aurich-Alter Hafen
2013 wurden bei der Sanierung der historischen Altstadt Aurichs weite Teile des alten Hafens archäologisch untersucht. An seinem südlichen Abschnitt mündete einst ein Speisegraben ein, der den Hafen mit frischem Wasser versorgte. In diesem Bereich war das ehemalige Hafenbecken mit Ziegelschutt und Flaschen verfüllt. Einige der Flaschen waren noch vollständig intakt. Sie stammen von heute nicht mehr existierenden, ehemals in Aurich ansässigen Brauereien wie der Ostfriesischen Actien Brauerei Aurich (1853–1923), der Kronenbrauerei Aurich (1896–1908) und der Ulferts Brauerei (1908–1965).
Der Fund von drei weiteren vollständigen Glasflaschen der Ostfriesischen Actien Brauerei Aurich bei Renovierungsarbeiten eines privaten Hauses in Aurich aus dem letzten Jahr veranlasste den Archäologischen Dienst, sich die Flaschen einmal genauer anzusehen und mit den Funden aus dem Auricher Hafen zu vergleichen. Üblicherweise werden Funde des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts allgemein als „neuzeitlich“ bezeichnet. Solche Funde lassen sich in der Regel kaum genauer zeitlich fassen, unter anderem, weil sie eine lange Zeit in großer Zahl hergestellt worden sind, ohne die Form zu verändern. Die Archäologie beschäftigt sich mit den Hinterlassenschaften der Menschen, dazu gehört in großer Zahl das verwendete Geschirr. Die Veränderungen an den Gefäßen lassen sich beschreiben, in Typen und Varianten gliedern und schließlich auch in zeitliche Abläufe einbetten. Die einzelnen Gefäßformen sind somit „Leitfossilien“ für bestimmte Zeiten und ermöglichen damit eine zeitliche Einordnung.
An den nun vorliegenden sieben vollständigen Flaschen der ehemaligen Ostfriesischen Actien Brauerei Aurich lassen sich einige allgemeine Beobachtungen durchführen und damit die Arbeitsweise der Archäologie erklären: Alle Flaschen repräsentieren frühe Exemplare, die in die frühe Zeit der industriellen Glasproduktion fallen. Die Glasrohmasse wurde in Glasformen gefüllt und in einer Hohlform ausgeblasen. Erkennbar ist dies an einer Naht, an der die Formschalen aufeinanderlagen. Da die Reliefverzierung und die Flaschenböden sehr deutlich ausgeprägt sind, handelt es sich um frühe Erzeugnisse aus sogenannten Glasmaschinen. Solche halbautomatischen Maschinen wurden schon recht früh nach der Patentierung, beispielsweise in der Glasfabrik Hermann Heye in Nienburg ab 1905 eingesetzt.
Die vorliegenden Flaschen wurden – mit einer Ausnahme – aus einem grünen, durchscheinenden Glas hergestellt. Die Flaschen nehmen im durchschnittlich 250 ml Flüssigkeit auf. Sie sind zwischen 24,7 und 25,5 cm hoch und haben Durchmesser von 6,0 bis 6,3 cm. Ihre Form entspricht der sogenannten Vichy-Flasche, einer gängigen Flaschenform für Biere mit lang ausgezogenem Hals ohne deutlichen Übergang vom Bauch über die Schulter in den Flaschenhals. Ausnahme ist die einzige Flasche aus Klarglas. Sie ist 21,5 cm hoch mit einem Durchmesser von 6,5 cm und entspricht mit der deutlichen Schulter zwischen dem Flaschenhals und dem Bauch dem heutigen Typ einer „Longneck“-Flasche. Alle vorliegenden Flaschen waren mit Porzellanzapfen und einer Drahtfeder verschlossen. Auch bei den Verschlüssen lassen sich zwei Arten unterscheiden: zum einen der Klappdeckelverschluss oder „Seltersverschluss“ und der auch heute noch verwendete Drahtbügelverschluss.
Aus den vorliegenden vollständigen Flaschen der ehemaligen Ostfriesischen Actien Brauerei Aurich lassen sich vier Typen anhand ihrer Form, ihres Verschlusses und des Reliefs auf dem Bauch der Flasche unterscheiden.
Typ 1:
Glasflasche aus Klarglas mit geringen Lufteinschlüssen in der Form einer „Longneck“-Flasche. Der Verschlussmechanismus ist noch erhalten in Form des Verschlussdrahtes und eines länglichen Porzellanzapfens mit „Nase“ zur Aufnahme der Schlaufe des Drahtverschlusses. Die Flasche ist vorn auf dem Bauch mit einem Relief verziert. Die Verzierung besteht aus einer einfachen Kartusche (Rahmen) mit geradem Boden und segmentförmigem Bogen. Darin befindet sich im oberen Drittel ein achtzackiger Stern aus zwei Quadraten, die um einen Mittelpunkt gedreht sind (Oktagramm). Darüber steht segmentförmig in Großbuchstaben die Aufschrift „OSTFRIESISCHE“, unterhalb des Sterns horizontal die Aufschrift „ACTIENBRAUEREI“, darunter wiederum die Aufschrift „AURICH“. Den unteren Abschluss bildet eine geschwungene Linie mit nach oben ausragenden breiteren Enden und einer Schlaufe in der unteren Mitte. Von ihr gehen links und rechts zwei Dreiecke aus.
Typ 2:
Glasflasche aus transparentem grünem Glas mit geringen Lufteinschlüssen in der Form einer „Vichy“-Flasche. L: 25,5 cm; Dm: 6,2 cm. Die Flasche weist eine Nut für die Aufnahme eines Drahtverschlusses für einen Klappdeckel auf. Der Verschlussmechanismus ist nicht erhalten. Die Flasche ist vorn auf dem Bauch mit einem Relief verziert, das ausschließlich aus einer Aufschrift wie bei Typ 1 besteht.
Typ 3 – Variante 1: Glasflasche aus transparentem grünem Glas wie Typ 2. L: 25,5 cm; Dm: 6,3 cm. Die Flasche ist am Hals, auf dem Bauch und der Unterseite reliefverziert. Am Flaschenhals befinden sich zwei umlaufende Linien im Abstand von 3,4 cm. Darin befinden sich je auf der Vorderseite und der Rückseite zwei sechseckige Sterne aus zwei Dreiecken, die um einen Mittelpunkt gedreht sind (Hexagramm) von 2,1 cm Größe. Die Verzierung auf dem Flaschenbauch besteht aus einer einfachen Kartusche (Rahmen) mit geradem Boden und segmentförmigem Bogen. Darin befinden sich die Aufschrift und der Stern wie bei Typ 1. Auf dem eingezogenen Flaschenboden befindet sich mittig ein sechszackiger Sterne aus zwei Dreiecken, die um einen Mittelpunkt gedreht sind (Hexagramm) von 2,6 cm Größe.
Typ 3 – Variante 2: Wie Typ 3 – Variante 1, mit folgendem Unterschied: Die Verzierung am Flaschenhals ist deutlich flacher ausgeprägt und auf dem eingezogenen Flaschenboden befindet sich mittig ein sechszackiger Sterne aus sechs einzelnen Elementen von 1,8 cm Durchmesser.
Typ 4: Glasflasche aus transparentem grünem Glas, wie Typ 2. L: 24,7 cm; Dm: 6,0 cm. Die Flasche weist zwei gegenüberliegende Vertiefungen für die Aufnahme eines Bügels für einen Drahtbügelverschluss auf. Der Verschlussmechanismus ist nicht erhalten. Die Flasche ist am Hals, auf dem Bauch und der Unterseite reliefverziert, mit Verzierung am Hals wie Typ 3 – Variante 2 und Verzierung am Bauch wie Typ 3. Auf dem eingezogenen Flaschenboden befindet sich mittig ein sechszackiger Sterne aus sechs einzelnen Spitzen und frei gebliebenem Zentrum von 2,5 cm Durchmesser.
Zur Ostfriesischen Actien Brauerei Aurich und der Herstellung der Flaschen: Aus dem Handelsregister im Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Aurich geht hervor, dass die Ostfriesische Actien Brauerei Aurich 1885 als Nachfolgerin der Buß’schen Brauerei an der Fockenbollwerkstraße gegründet wurde. Sie hat in Aurich bis 1923 bestanden und wurde dann von der St.-Pauli-Brauerei aus Hamburg übernommen, die die Brauerei als Abteilung Aurich ab 1923 noch weiter betrieb. In der Nachfolge wurde sie als Bavaria- St.-Pauli-Brauerei GmbH bezeichnet. Das Brauereienkonvolut der Bavaria- St.-Pauli-Brauerei GmbH, der späteren Brau und Brunnen AG, wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte hin und her verkauft und endete dann 1998 in der Holsten-Gruppe, die dann wiederum von der Carlsberg-Gruppe übernommen wurde.
Hinweise auf das genaue Alter der Flaschen könnten die Verschlüsse geben. In den USA erhielt Charles de Quillfeldt am 5. Januar 1875 ein Patent für den Bügelverschluss. Zeitgleich entwickelte in Berlin Carl Dietrich 1875 einen Drahtbügelverschluss, der zwei Jahre später vom Berliner Nicolai Fritzner weiterentwickelt wurde. Dies führte zur Gründung einer Fabrik für Bügelverschlüsse. Ab 1885 wurden im Flaschenhals zwei gegenüberliegende Vertiefungen angebracht, in denen der Bügel sicher verankert werden konnte. 1877 wurde auch der Klappdeckelverschluss des Magdeburgers Hermann Grauel patentiert. Dieser wurde von Otto Kirchhoff weiterentwickelt, indem er den bis dahin gebräuchlichen runden Verschluss zu einem länglichen Kopf mit „Nase“ änderte und als 1896 eingetragenes Gebrauchsmuster schützen ließ. Beide Verschlusstypen waren also zeitgleich in Gebrauch und können nicht für eine genaue Datierung herhalten. Da aber am Alten Hafen auch eine Flasche der ab 1923 nachfolgenden Bavaria-Brauerei vorliegt, die einen Drahtbügelverschluss aufweist, liegt die Vermutung nahe, dass dieser Verschlusstyp jünger sein kann. Rein aus typologischen Erwägungen scheint die Flasche Typ 2 wegen der weniger aufwendig ausgeprägten Verzierungen älter zu sein. Zudem ist ihr Hals in der Längsachse der Flasche leicht asymmetrisch, was für eine manuelle Entnahme der noch heißen Flaschen aus den Formen spricht. Die beiden Varianten des Typs 3 sowie die Klarglasflasche Typ 1 scheinen aufgrund der einheitlichen Reliefverzierung in der Bauchkartusche mehr oder weniger zeitgleich zu sein. Der Unterschied in der Glasfarbe – für Klarglas muss neues, reines Glas verwendet werden – kann im Inhalt begründet sein. Gleiche Flaschentypen aus Tschechien wurden beispielsweise für Limonade verwendet. Der Typ 4 rückt aufgrund der Vertiefungen für die Aufnahme eines Drahtbügelverschlusses näher an die Bavaria-Flasche heran. Zudem ist die Bavaria-Flasche wohl schon in einer moderneren automatisierten Glasmaschine entstanden, die ab 1905 in der Nienburger Glasfabrik H. Heye Verwendung fanden. Darauf lässt die Glasmarke auf dem Flaschenboden in Form eines dreiblättrigen Kleeblattes schließen. Somit wäre die rein typologische Abfolge wie folgt zu rekonstruieren: Auf Typ 2 folgt Typ 3 bzw. Typ 1, gefolgt von Typ 4.
Die Unterscheidung der im frühindustriellen Zeitalter hergestellten Flaschen muss aber nicht zwingend ausschließlich chronologisch vorzunehmen sein, sondern es kann sich auch um unterschiedliche Chargen oder verschiedene Hersteller handeln, die ein Gebrauchsmuster variiert haben. Leider haben aktuelle Recherchen bei den Nachfolgebesitzern der Ostfriesische Actien Brauerei Aurich keine Ergebnisse darüber gebracht, wo die Flaschen damals bestellt wurden, da sie keine Archive vorhalten. Somit wäre ein nächster Schritt, bei damals tätigen Glasflaschenherstellern zu recherchieren, ob noch die Auftragsbücher vorhanden sind. Beispielsweise stellten in Nienburg die Glashütten „H. Heye Glasfabrik“ ab 1873 bzw. ab 1891 „Himly, Holscher & Co“ einen Großteil der verwendeten Glasflaschen her. Da die Flaschen der Ostfriesische Actien Brauerei Aurich in automatisierten Verfahren hergestellt wurden, müssen sie irgendwann zwischen 1905 und 1923 produziert worden sein.
(Text: Jan F. Kegler)