2509/4:14 - Canhusen
Spätestens seit diesem Buchtitel von Hape Kerkeling weiß man in Deutschland wieder, was pilgern ist – oder zumindest so ungefähr: Man geht zu Fuß mit Hightech-Trekkingausrüstung nach Santiago de Compostela.
Doch das Pilgern hat seine Ursprünge in sehr viel älterer Zeit und war „damals“ ein durchaus das Leben prägendes Ereignis. Bereits in der Antike machten sich Menschen aus religiösen Gründen auf den Weg zu Wallfahrtsorten. Dies musste auch nicht immer zu Fuß sein, man konnte sich sehr wohl auch schneller fortbewegen, andererseits aber auch ganze Strecken auf den Knien zurücklegen. Wallfahrtsorte der Antike waren z. B. der Tempel der Artemis in Ephesos oder das Orakel von Delphi. Bis heute geblieben sind es Jerusalem sowie Mekka und Medina.
Seit dem 4. Jahrhundert begannen christliche Pilger, nach Jerusalem zu reisen. Eine ähnliche Bedeutung erlangte in den Jahrhunderten darauf bald die Grabstätte der Apostel Petrus und Paulus in Rom. Ab dem 9. Jahrhundert trat Santiago de Compostela hinzu, das vor allem durch sein hervorragendes, von Klöstern betreutes Herbergsnetz im Mittelalter als Pilgerziel führend war.
Man kann sagen, dass es sich bei der Betreuung der Pilger sowie bei deren Ausstattung um ein lukratives Geschäft handelte. Religiosität war ein wichtiger Bestandteil der Menschen im Mittelalter, und es verwundert nicht, dass nicht nur das Zeigen von Reliquien Menschenmassen in die jeweilige Stadt brachte, sondern auf diese Weise auch zahlreiche Wallfahrtsorte entstanden. Ziele von Pilgerreisen waren z .B. die Wallfahrtsorte Aachen, Altötting, Einsiedeln, Köln, Königslutter, Lourdes, Mariahilf, Mariazell, Nikolausberg bei Göttingen, Santiago de Compostela, Częstochowa, Wilsnack und viele mehr.
Der Pilger begab sich durchaus in dem Bewusstsein auf die Reise zu weit entfernten heiligen Stätten, dass seine Rückkehr ungewiss ist. Umso wichtiger war es, sich als Pilger zu kennzeichnen, also durch die Kleidung (Pilgermantel, Pilgerhut) zu zeigen, dass man auf Pilgerreise ist oder – noch besser – durch Anstecken oder Aufnähen von Abzeichen zu zeigen, dass man sich auf dem Rückweg befindet, da man sich so einen gewissen Schutz vor Wegelagerern erhoffen konnte. Der Pilger kaufte am Wallfahrtsort Andenken für sich und die Daheimgebliebenen. Diese Devotionalien konnten heilige Erde, Wasser, Öle, Pilgerzeichen, Rosenkränze, Medaillen, Kreuze und vieles mehr sein. Erde, Öle oder Wasser etwa wurden z. B. in genau solchen kleinen Blei-Zinn-Ampullen verkauft und auf die Kleidung genäht wie der hier vorgestellte Fund. Die Gegenstände erlangten im Glauben der damaligen Menschen durch kirchliche Weihe oder Berührung des Gnadenbildes eine heilende und schützende Wirkung. Sie halfen nach der Rückkehr im häuslichen Gebrauch gegen Krankheit, Unwetter und sonstige Nöte, aber sie erinnerten auch an die Wallfahrt selbst oder ermahnten zu einem erneuten Aufbruch.
Die Herstellung von Devotionalien hatte damit im Mittelalter eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Bedeutung. An den einzelnen Wallfahrtsorten wurden Pilgerzeichen aus Blei-Zinn-Legierungen zu Hunderttausenden hergestellt. In Einsiedeln wurden 1466 in zwei Wochen 130.000 Stück verkauft. Doch leider bleiben Objekte aus Blei-Zinn im archäologischen Befund selten erhalten, weil sie in den meisten Böden völlig vergehen. Dies ist sehr schade, da dieses Metall im Mittelalter eine große Bedeutung hatte. Nicht nur Devotionalien wurden daraus hergestellt, sondern auch Schmuckstücke und Spielzeugfiguren. Einen Einblick in das Spektrum der aus diesem vergänglichen Material hergestellten Gegenstände zeigt z. B. ein 2005 in Magdeburg gefundener Komplex von Gussformen für Blei-Zinn aus dem 12. Jahrhundert. Wie groß der Formenreichtum der größtenteils verlorengegangenen Blei-Zinnfiguren war, zeigt auch die hunderte Exemplare zählende Sammlung von Spielzeugminiaturen im Museum of London, die nahezu sämtliche Haushaltsgegenstände des 13. bis 18. Jahrhunderts darstellt (Grapen, Fettpfannen, Uhren, Möbel, Wiegen, Teller, Kannen etc.).
Zurück nach Ostfriesland: In den 1970/80er Jahren wurde in Canhusen diese Pilgerampulle aus Blei-Zinn bei einer Feldbegehung gefunden. Das 6,2 cm hohe Stück ist als Gefäß gestaltet, also befüllbar, und mit zwei Ösen versehen, so dass man es an die Kleidung nähen konnte. So nähte man als sichtbare Zeichen für die absolvierte Wallfahrt nach Santiago de Compostela Kamm-Muscheln an den Hut, auf den Mantel oder auf eine Tasche, eine Muschelart, die daher heute eher Jakobsmuschel genannt wird. Das Pilgerfläschchen aus Canhusen zeigt auf der Vorderseite eine Lilie und auf der Rückseite eine Zirkelschlag-Blüte mit sechs Blütenblättern. Dieses Dekor konnte bisher noch keinem Wallfahrtsort zugewiesen werden. Es gibt jedoch ein etwas prächtiger ausgeführtes Stück mit identischer Dekoranordnung aus dem 14. Jahrhundert von Butlers Warf (London). Auch wenn die Herkunft der Ampulle nicht sicher zu bestimmen ist, gibt es doch Hinweise. Von Canterbury, Bromholm, Worcester und York/Evesham beispielsweise ist bekannt, dass dort Ampullen an die Pilger ausgegeben wurden. Da der Herkunftsort der Canhuser Ampulle unbekannt ist, lässt sich auch nicht sagen, welche Flüssigkeit sich in dieser Ampulle befand. Das Problem der unbekannten Zuweisung besteht leider für sehr viele Pilgerzeichen. Es ist oft nicht bekannt, welcher Wallfahrtsort welche Darstellung zeigt. Von anderen Pilgerzeichen weiß man hingegen, woher sie stammen, so die Kamm-Muschel für Santiago de Compostela oder die drei Kreise mit Jesus an der Geißelsäule, der Kreuzigung, und der Auferstehung für Wilsnack. Die Forschung an den Pilgerzeichen geht weiter, und es können mehr und mehr Orte zugewiesen werden.
(Text: Sonja König)
Literatur:
Hazel Forsyth, Geoff Egan, Toys, Trifles & Trinkets. Base-metal miniatures from London 1200-1800. Museum of London (London 2005).
Brian Spencer, Pilgrim souvenirs and secular badges. Medieval finds from excavations in London 7 (London 1998) 205.