2711/2:151 - Brinkum Liddenweg
Ostfriesland ist bekannt für seinen Wasserreichtum, das bezieht sich nicht nur auf das Meer, sondern auch auf den Regen und die hohen Grundwasserstände. Ostfriesland hat archäologisch gesehen damit einen enormen Vorteil gegenüber vielen anderen Landesteilen Niedersachsens, denn überflutete Wiesen und Grundwasser in der kleinsten Grube sind für den Archäologen ein Glücksfall. Der hohe Grundwasserstand bewirkt, dass häufiger als andernorts organische Materialien wie Holz und Textilien überdauern. In einem normalen gut gelüfteten Boden geschieht dies nicht, dort verrotten die Objekte. In all jenen Bodenbereichen, die ständig unter Wasser bleiben, kann sich organisches Material hingegen erhalten. Durch den hohen Grundwasserstand ist eine Erhaltung durch Sauerstoffabschluss oft bereits ab ca. 1 m unter der heutigen Oberfläche gegeben. In Raum Brinkum ist ab ca. 1 ½ m unter der Oberfläche mit kontinuierlich sehr hoher Bodenfeuchte oder sogar schon Grundwasser und damit mit Holzerhaltung zu rechnen. Bei Eingrabungen dieser Tiefe handelt es sich bei den auf Ausgrabungen angetroffenen Strukturen zumeist um Brunnen. Und so verwundert es nicht, dass die häufigste organische Fundart in Ostfriesland der untere hölzerne Rahmen, der Schling, eines Brunnens ist. Diese Holzrahmen sorgten als Unterbau zum einen für die Standsicherheit des Brunnens und filterten zum anderen gleichzeitig den Nachfluss des Wassers. Zumeist handelte es sich bei den Hölzern um zugerichtete Holzstämme, Äste oder Bretter, selten um wiederverwendete alte Bauteile eines Hauses oder für die ursprüngliche Funktion unbrauchbar gewordene landwirtschaftliche Geräte. Unter Letzteren waren wegen ihrer Form Eggenteile beliebt. Eggen bestanden im Mittelalter aus hölzernen Balken mit hölzernen Zapfen, die zu rechteckigen Eggen zusammengesetzt wurden. Trotz der guten Verhältnisse bleiben hölzerne Geräte und Gegenstände jedoch eine Besonderheit. Während „irgendwie“ zugerichtete Balken häufig vorkommen, ist ein vollständiges oder auch ein nur zum Teil überkommenes erkennbares Gerät bereits ein Glücksfall. Und so tritt nun die Ausgrabung in Brinkum auf den Plan.
In Brinkum bei Hesel im Landkreis Leer wurden im Bereich des Neubaugebietes „Liddenweg“ zwischen 2009 und 2017 auf einer Fläche von ca. 2,5 ha archäologische Ausgrabungen durchgeführt, die nur durch die enge Zusammenarbeit und vor allem Unterstützung durch die Bürgermeister Uwe Themann und Bernhard Janssen sowie das Team der Gemeinde Hesel möglich geworden sind. Zu Tage traten die Strukturen einer frühmittelalterlichen Siedlung, die ca. um 1000 n. Chr. bestanden hat. In der frühmittelalterlichen Siedlung Brinkum gab es zahlreiche Pfostengebäude, darunter Speicher und Wohngebäude, aber auch ein Gebäude mit Spaltbohlenwänden, Grubenhäuser, Öfen und tiefe Gruben mit unklarer Funktion. Im Jahr 2012 wurde eine Zisterne gefunden. Dort wurde in einer am oberen Rand sehr weiten und sich nach unten stark verjüngenden Grube Oberflächenwasser gesammelt, der geringe Durchmesser an der Sohle gewährleistete nicht unbedingt ausreichend Zufluss im Boden. Der ca. 2 m tiefe Schacht zeigte darüber hinaus weder eine Wandauskleidung noch einen Holzrahmen/Schling auf dem Boden. Doch zum Glück reichte die Zisterne bis in die wasserführenden Schichten, denn sie hielt eine Überraschung bereit. Auf der Sohle lagen mehrere aus Holz gedrechselte Gefäße um einen keramischen Kugeltopf herum.
Die hölzernen Fundstücke wurden in Erdblöcken geborgen, ständig unter Wasser gehalten und direkt einer Restauratorin übergeben. Jede Stunde ohne Wasser hätte den Zerfall des Holzes in Gang gesetzt. Wir danken der Sparkasse-Kulturstiftung für die Unterstützung, ohne die eine derartige Konservierung nicht möglich gewesen wäre.
Auf dem Boden des Brunnens stand zentral ein vollständig erhaltener Kugeltopf aus Muschelgrusware mit einem Durchmesser von 11,5 cm sowie einem Bauchdurchmesser von 19,5 cm und einer Höhe von 17,5 cm. Um den Kugeltopf herum lagen die Bruchstücke der mehr oder weniger kompletten Holzgefäße.
Es wurden fünf hölzerne Schalen mit unterschiedlichen Durchmessern und unterschiedlichen Profilen, ein Pokal und ein Eimer gefunden. Die Holzarten der Gefäße wurden von Prof. Dr. Felix Bittmann, Niedersächsisches Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven, bestimmt. Vier von ihnen bestanden aus Erlenholz, drei aus Ahornholz.
Neben diesem konservatorischen Glücksfall muss man den wissenschaftlichen Wert im Auge behalten. Über den Alltag um 1000 n. Chr. wissen wir sehr wenig. Das Fundmaterial umfasst normalerweise zumeist Keramik, evtl. Metall und Stein. Textilien, Leder und Holz sind selten überliefert, dabei machte gerade Holz den größten Teil des beweglichen Mobiliars aus, so Möbel, Gefäße, Einbauten, Kochutensil, landwirtschaftliche Geräte, Spielzeug usw. Die im Brunnen gefundenen Gefäße erweitern damit das Wissen über die Formenvielfalt und überhaupt die hölzernen Gegenstände in einem frühmittelalterlichen Haushalt maßgeblich.
Ein Aspekt sollte nicht unbeachtet bleiben: Die Gefäße sind sehr sorgsam gedrechselt worden. Feine Drechselarbeiten sind seit der Zeit nach Christi Geburt bekannt, Drehbänke für Holz oder Knochen sind aber nicht erhalten und können nur aus Schriftquellen und Zeichnungen ab dem 13. Jahrhundert und durch Versuche rekonstruiert werden. Der wichtigste Unterschied zu den heutigen Drehbänken ist neben dem Antrieb mit Fuß oder Hand die wechselnde Drehrichtung.
(Text: Sonja König)
Literatur:
Sonja König, 151 Brinkum OL-Nr. 2711/2:151, Gde. Brinkum, Ldkr. Leer, ehem. Reg. Bez. W-E. Fundchronik Niedersachsen, Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte Beiheft 17, 2014, 98–99.
Sonja König, Von der Tafel in den Brunnen. Ein Holzgefäßensemble des frühen Mittelalters aus Brinkum. Archäologie in Niedersachsen 21, 2021, 75–79.
Ralph Röber, 338 Rekonstruktion einer Wippdrehbank. In: J. Krüger (Hrsg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525. Stuttgart 2001, 339–340.